Auf dem Solothurner Hausberg Weissenstein entwickelte sich parallel zu der traditionellen Sennerei im 19. Jahrhundert ein erfolgreicher Gastwirtschafts- und Kurbetrieb. Um den stetig zunehmenden Ansprüchen einer der beliebtesten Fremdenverkehrsdestination der Region Jura-Mittelland genügen zu können, wurde 1826/27 ein stattliches Berghotel errichtet (Projekt: Solothurner Stadtbaumeister Leonz von Surbeck; unter Bundesschutz). Um 1900 entwickelte sich der Weissenstein mit der Einführung von Ski- und Schlittensport zu einem Ganzjahresausflugsort. Der bis dahin bedeutende Tourismussektor erlebte aufgrund der beiden Weltkriege einen markanten Rückschlag und erfuhr erst wieder in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre einen Aufschwung. Die frühesten Absichten, die Bergkuppe Weissenstein mit einer Bahn zu erschliessen, gehen mit den Plänen einer internationalen Eisenbahnachse Alpen-Ostfrankreich mit einem unter dem Weissenstein hindurch führenden Teilstück Solothurn - jurassisches Birstal einher. Diskutiert und projektiert wurden 1904 eine elektrische Zahnradbahn, 1908 eine Seilschwebebahn und 1929 ein vertikaler Aufzug ausgehend von der Mitte des Weissenstein-Tunnels der Solothurn-Münster-Bahn SMB. Die Realisierung einer Weissenstein-Bergbahn nahm nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konkrete Formen an. 1950 wurde schliesslich für eine kuppelbare, in zwei Sektionen aufgeteilte Einseilumlaufbahn die Konzession erteilt.
Die Linie erstreckt sich über eine Länge von insgesamt 2'366 m und ist mit 30 eleganten Stahl-Fachwerkmasten versehen. Die Talstation liegt südwestlich der SMB-Station Obederdorf (heute BLS). Die Seilspur überquert kurz nach der Ausfahrt mittels einer aufwändigen Schutzbrücken-Stützenkonstruktion die Linie der SMB (BLS) respektive die Fahrstrasse und verläuft in einem unauffälligen Waldeinschnitt in nordöstlicher Richtung hinauf zum Zwischenplateau Nesselboden. In der ersten Sektion steigt die Bahn von 661 auf 1'064 m ü. M. an. In der Mittelstation Nesselboden wird die Bahn um ca. 120° umgelenkt und in nördlicher Richtung zur Bergkuppe Weissenstein Kulm auf 1'280 m ü. M. weitergeführt. Die Bergstation liegt westlich neben dem Kurhaus und ist gegenüber dem prominenten Gasthauskomplex leicht tiefer platziert. In der Talstation Oberdorf ist die Spannvorrichtung (Gewichtsabspannung mit Spannschacht) der ersten Sektion untergebracht, diejenige der zweiten Sektion ist in der Bergstation Weissenstein angeordnet (Spannwagen). Das Stationsgebäude Nesselboden beherbergt die Antriebseinheiten beider Sektionen, die bei Bedarfsfall unabhängig voneinander betrieben werden können. Sie sind durch Schienen verbunden, auf denen die ausgekuppelten Fahrbetriebsmittel – quer zur Fahrbahn ausgerichtete Doppelsessel mit Holzlattensitzen – von der einen zur andern Sektion rollen. Die ursprünglich von Hand bewegten Sessel werden heute von Kettenförderern erfasst und fortbewegt. Der Übergang von der Umlauf- respektive Verbindungsschiene zum Förderseil, einst über Rampen und Schwergewicht funktionierend, erfolgt heute über nachträglich eingerichtete Pneuradbeschleuniger. Nicht betriebene Sessel werden mehrheitlich in der Talstation und im Nesselboden garagiert; Abstellgeleise befinden sich auch in der Station Weissenstein.
Die Entwürfe und die Planung der Stationsgebäude stammen vom bekannten Solothurner Architekten Paul Hüsler. Die zeittypisch als sachliche Satteldachgebäude ausgeführten und dadurch verhalten elegant wirkenden Hochbauten sind entsprechend ihrer unterschiedlichen Funktionen differenziert ausgebildet und unterscheiden sich in Volumetrie und Charakter. Die spektakulärste Form weist die grossteils auf einem von Stützen getragenen Betontisch angeordnete Talstation auf, während die Bergstation sich als remisenartige Zweckbaute präsentiert. Aufgrund ihrer Funktion als Umlenkungsstation mit Werkstatträumen und (ehemaliger) Betriebsleiterwohnung beansprucht die Zwischenstation auf dem Nesselboden den grössten Raum.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Seilbahntechnik mit der Lancierung des von der Firma Von Roll in Bern und insbesondere ihres verantwortlichen Konstrukteurs Paul Zuberbühler entwickelten Systems der Einseilumlaufbahn mit kuppelbaren, quer zur Fahrbahn ausgerichteten Sesseln entscheidend vorangetrieben. Die legendäre, nachträglich als VR101 bezeichnete kuppelbare Von Roll-Seilklemme löste einen regelrechten Sesselbahnboom aus; allein bis in die frühen 1960er-Jahre konnte Von Roll in der Schweiz über ein Dutzend Anlagen dieses Typs installieren. Trotz einiger Nachrüstungen und Überholungen in Teilbereichen und der Ergänzung mit neuen Komponenten ist der Weissenstein-Sessellift in einem eindrücklichen Masse und vom Grundsystem her original erhalten. Als schweizweit letzte Repräsentantin einer zentralen bahntechnischen Erneuerung respektive eines äusserst erfolgreichen Produktionszweigs des Berner Giesserei-Werks, aber auch aufgrund ihres Betriebsalters sowie ihrer Konzeption als Zweisektionen-Bahn (Oberdorf – Nesselboden; Nesselboden – Weissenstein) stellt die Sesselbahn von Oberdorf auf den Weissenstein einen einzigartigen Zeugen schweizerischer Bahntechnik dar. Dank ihres ausgewogenen Massstabs und der sensiblen Einpassung in die natürlich-topografische Umgebung bildet die Gesamtanlage mit dem hervorragenden landschaftlichen Kontext ein harmonisches Ganzes. Auch in Zusammenhang mit der kultur- und fremdenverkehrsgeschichtlichen Bedeutung des Ausflugs- und Kurorts Weissenstein spielt die Von Roll-Sesselbahn eine zentrale Rolle. Die Anlage ist zur Zeit stillgelegt.
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Konzeption | | |
Erschliessungsidee (Vision) | | Erschliessung der berühmten Jura-Bergkuppe Weissenstein mit dem bekannten Kurhotel; Bergbahn-Ideen seit dem frühen 20. Jahrhundert (Zahnradbahn, Seilschwebebahn, Aufzug) |
Linienführung: Planung, Umsetzung | | Zweisektionen-Bahn mit Streckenumlenkung in der Mittelstation u. differenziertem Betriebsmodus (Betrieb der Gesamtlinie, Betrieb einzelner Sektionen); Überquerung von zwei bestehenden Verkehrsträgern am Streckenbeginn |
Seilbahntechnik | | |
besondere oder typische tech. Konstruktion, Ausführung, Lösung, Materialien | | Zweisektionen-Bahn mit Linienumlenkung in Mittelstation; in Mittelstation Antriebseinheiten beider Sektionen; Abspannung in Tal- respektive Bergstation; Einseilumlaufbahn mit kuppelbaren Zweier-Sesseln; quer zur Fahrbahn geklemmte Sessel mit Sitzen aus Holzlatten; lichte u. elegante Stahl-Fachwerkstützen |
seilbahntechnische Bedeutung: Prinzip, Hersteller | | letzter (noch betriebsfähiger) Vertreter des renommierten u. legendären, von 1945-1960 sehr häufig installierten Von Roll-Fabrikats einer Einseilumlaufbahn mit kuppelbaren, quer zur Fahrbahn angeordneten Zweier-Sesseln mit der nachträglich als VR101 bezeichneten Klemme; Entwicklung des berühmten Von Roll-Ingenieurs Paul Zuberbühler |
Baukunst: Streckenbauwerke, Hochbauten | | |
Ingenieurbau | | von besonderer Bedeutung ist die aufwändige Überfahrt- u. Überbrückungskonstruktion zu Beginn der Strecke bei der Querung der Bahnlinie SMB/BLS |
Architektur | | für die frühe Nachkriegszeit typische, zurückhaltend elegante, vom späten Heimatstil inspirierte Formensprache; nach Funktion u. Bedeutung differenzierte Ausbildung der Bauten |
besondere oder typische arch. Konstruktion, Ausführung, Lösung, Materialien | | Aufteilung in "Sockelzonen" u. in Holz ausgeführte Aufbauten unter Satteldach; Talstation: kreuzförmig angeordnete, auskragende Betontische auf Stützen respektive Kernen aus Sichtmauerwerk; Deckleisten-Holzschalung als Aussenhülle der Holzkonstruktion; Mittelstation: massives Kellergeschoss; Hetzer-Binder; Holzkonstruktion mit horizontaler Brettverschalung u. nachträglicher Zementfaserplattenverrandung; Bergstation: partiell unterkellert (möglicherweise ältere Bausubstanz: ehem. Eiskeller?); Holzkonstruktion verschalt u. verrandet |
bautypologische Bedeutung | | die Hochbauten sind aus der Bauzeit stammende, in ihrem Erscheinungsbild u. in ihrer Grundstruktur wenig veränderte Anlagekomponenten |
Authentizität: materielle, ideelle Überlieferung | | |
Umfang und Qualität der ursprünglichen Komponenten | | Grunddisposition u. Seilbahnsystem mit der legendären Klemmtechnik der kuppelbaren Seilklemme VR101; Stützen; Hochbauten |
Qualität der Nachrüstungen | | Anpassungen 1994 unter Beibehaltung des ursprünglichen Klemmenprinzips VR101: Ersatz der Antriebsgruppe u. des Bremswerks, Erneuerung der Steuerung u. der Fernüberwachung, in den Stationen Ergänzung von Kettenförderern u. Pneuradbeschleunigern, bei den Stützen Montage von Seilfängern u. Unterhaltspodesten |
funktionale Unversehrtheit | - | aufgrund eines laufenden Konzessions- u. Plangenehmigungsverfahrens zeitweilig eingestellter Betrieb |
Kulturgeschichte | | |
Personen, Firmen, Institutionen | | legendäres Produkt des Schweizer Seilbahnherstellers Von Roll; Entwicklung von Paul Zuberbühler |
Wirtschaft, Tourismus, Verkehr, Militär | | das System der Einseilumlaufbahn mit kuppelbaren Sesseln revolutionierte den Seilbahnbau der frühen Nachkriegszeit u. löste einen Seilbahnboom aus; bedeutende Fremdenverkehrsdestination mit attraktiver Fernsicht u. gepflegtem Berggasthaus |
Räumliche Situation | | |
Berücksichtigung der Landschaft, der natürlichen Umgebung, des urban. Kontexts | | aufgrund der relativ massvollen Abmessungen u. Dimensionierung der Anlagekomponenten vergleichsweise gut u. harmonisch in die Landschaft (von nationale Bedeutung) eingefügt; geschickte Situierung der Hochbauten bezüglich der topografischen u. infrastrukturellen Rahmenbedingungen |
Infrastruktur | | |
touristische/betriebliche Infrastruktur | | Kurbetrieb Weissenstein Kulm; Gastbetrieb Hinterer Weissenstein; Wanderwege; Schlittelwege; Parkierung bei Talstation |
Verkehrsnetze | | Bahnlinie der Solothurn-Münster-Bahn SMB, heute BLS, Station Oberdorf; Zufahrtsstrasse |
Strecke | | |
Betriebszweck | | Touristisch |
Streckenlänge (schief) | | 1616 m |
Höhendifferenz | | 403 m |
Längstes Seilfeld (schief) | | 158.94 m |
Grösster Bodenabstand | | 10 m |
Neigung Maximal; Mittelwert | | 645 o/oo; 260 o/oo |
Spurweite (auf Stützen); Bergseilseite | | 3000 mm; rechts |
Anzahl Stützen | | 25 |
Stützenbautechnik; Stützenform | | Stahl Fachwerk; T-Stütze |
Stützen Hersteller | | 1950; Von Roll |
Stützen-Rollenbatterie Hersteller | | 1950; Von Roll |
Hochbauten | | |
Talstation Name; Konstruktion | | 1950; Oberdorf; Holzbau, Massiv (Beton/Mauerwerk) |
Architekt | | Paul Hüsler, Solothurn |
Bergstation Name; Konstruktion | | 1950; Nesselboden; Holzbau, Massiv (Beton/Mauerwerk) |
Architekt | | Paul Hüsler, Solothurn |
Seile | | |
Förderseil Durchmesser | | 25 mm |
Antrieb | | |
Antrieb Ort | | in Bergstation |
Motor Hersteller | | 1994 ; ABB |
Motorleistung | | 75 kW |
Getriebe Hersteller | | 1994; Kissling & Co |
Notantrieb für Räumung | | Hydraulisch mit Verbrennungsmotor |
Bremsen | | |
Betriebsbremse | | 1994; Scheibenbremsen |
Sicherheitsbremse | | Scheibenbremsen |
Mechanische Einrichtungen | | |
Förderseil Spannsystem | | Gewicht Talstation |
Stationsumlaufförderer | | Kettenförderer |
Beschleuniger/Verzögerer | | Schwerkraft, Luftreifen |
Elektrotechnische Einrichtungen | | |
Steuerung Hersteller | | 1994; Frey AG |
Fernüberwachungsanlage Hersteller | | 1994; Frey AG |
Fahrbetriebsmittel | | |
Anzahl | | 87 |
Plätze / Fahrzeug | | 2 |
Fahrbetriebsmittel Leergewicht | | 110 kg |
Sessel Hersteller | | 1950; Von Roll |
Sesseltyp | | Metall mit Holzlattung |
Gehänge Hersteller | | 1950; Von Roll |
Klemmvorrichtung Hersteller; Typ | | 1950; Von Roll; Federklemme, Gewichtsklemme |
Förderleistung | | |
Fahrgeschwindigkeit max.; Fahrzeit | | 2.68 m/s; 10 Min. |
Personenleistung; Jahresbeförderung Total | | 450 Personen/h; 109000 Pers./Jahr |
Jahresbeförderung Güter | | - Tonnen/Jahr |
Notwendiges Betriebspersonal | | 4 Pers. |
Bundesinventare |
- | BLN | Objekt-Nr.: 1010 Weissenstein |
Literatur |
- | Frieder, Alfred, Sesselbahnen, in: Von Roll-Werkzeitung, 17. Jg., Nr. 2, März 1946 |
- | Sesselbahn Oberdorf-Weissenstein, in: Bergbahnen der Schweiz, Siebnen SZ: Obersee Verlag, 1959, p. 514 |
- | Schweizer Heimatschutz (Hg.): Die schönsten Verkehrsmittel der Schweiz, Zürich, 2007, p. 28 |
- | Feuz, Fritz: Wunderbar - kuppelbar, in: 50 Jahre Seilbahnen der Schweiz 1957 - 2007, hrsg. v. Vereinigung Technisches Kader VTK 2007, p. 87-96 |
- | Feuz, Fritz: Seil-Klemmen - eine eigene Geschichte, in: 50 Jahre Seilbahnen der Schweiz 1957 - 2007, hrsg. v. Vereinigung Technisches Kader VTK 2007, p. 111-115 |
- | Gentil, Claude: Sesselbahn Oberdorf-Weissenstein, Version vom 06.07.2009, URL: http//www.seilbahn-nostalgie.ch/weissenstein.html |
e-docs |
- | http://www.cablecar.ch/html/sesselbahn1.html |
- | http://www.seilbahn-nostalgie.ch/weissenstein.html |
- | http://www.prosesseli.ch |